Kolumne
Im Home-Office entledigten sich viele Frauen ihres BH. Sie feiern das als neue Freiheit, die sie beibehalten möchten. Aber halten sie die Blicke aus, die ihnen dadurch drohen?
Birgit Schmid
Neue Vorlese-Stimmen
Eine verbesserte Vorlesefunktion steht zur Verfügung. Probieren Sie es aus!
Zwei Jahre nach dem Auszug aus dem Weissen Haus wurde Michelle Obama von der britischen Komikerin Gina Yashere gefragt: «Ist das Ende der Präsidentschaft Ihres Mannes vergleichbar mit dem Moment, wenn Sie nach einem langen Tag Ihren BH ausziehen, im Sinne totaler Freiheit?»
Die ehemalige First Lady vermied es in ihrer Antwort, über ihr Verhältnis zu Dessous zu sinnieren. Aber sie schien den Vergleich nicht daneben zu finden. Ja, sagte sie: Das Leben fühle sich leichter an, sie bewege sich freier. Das konnte man im «Guardian» lesen.
Eine ähnliche Befreiung vom Büstenhalter rapportieren nun viele Frauen dank dem Home-Office im Lockdown. An den Tagen daheim konnte man sich von allen Kleiderzwängen befreien, also entliess man auch die Brüste aus ihrem Gefängnis. «Boob cages», Busenkäfige – so nennen manche Frauen den BH tatsächlich.
So schlimm habe ich das nie empfunden. Ein guter BH formt, er stützt und gibt dem Körper Haltung. Ich würde nun auch nicht wieder die Gesellschaft dafür einklagen, dass sie so streng mit Frauen ist. Was in Modeblogs, auf Youtube und in Frauenmagazinen als Ereignis gefeiert wird, sollte selbstverständlich sein. Jede Frau entscheidet selber, ob sie einen BH trägt.
Alles wippt, hüpft, wogt
Vor fünfzig Jahren war das Verbrennen des BH ein politisches Statement. Heute ist der Verzicht auf den Büstenhalter längst kein revolutionärer Akt mehr. Auf den Strassen in New York oder Paris begegnet man immer wieder Frauen, die deutlich erkennbar nichts darunter tragen. Sie tun es, weil sie so nichts behindert, aber auch aus modischen Gründen. Sie geben sich selbstbestimmt, haben es gern «natürlich», wollen auffallen.
Kate Moss, Rihanna und Lena Dunham machen vor, wie das geht. Dasselbe tat schon Patti Smith, die sich 1976 barbusig in der Lederjacke fotografieren liess. Jane Birkin sah man in jüngeren Jahren oft in Shirts, unter denen sich die Brustwarzen abzeichneten.
Es klingt gut, wie manche Frauen das Lebensgefühl ohne BH beschreiben: Bei jeder Geste wippe, schwinge, hüpfe und woge es mit. Beim Nicken, Winken, Treppenhinunterrennen – da tanzen die Brüste sogar. Trotzdem: Man muss sich ja wirklich nicht mehr die Bügelmonster unserer Grossmütter umschnallen. Frauen entwerfen für Frauen sportliche, anschmiegsame BH. Diese BH erlauben den Pas de deux der Brüste noch immer.
Nun haben viele Befreite gehofft, dass sich der BH-lose Alltag verlängern lässt und nach der Corona-Pandemie zur neuen Normalität wird. Doch das Ende des BH scheint mir fern. Und zwar allein darum, weil Frauen die Blicke nicht ertrügen, wenn sie sich wieder unter die Leute mischten.
Schon Schauen ist übergriffig
Zwar verursacht man mit Nacktheit keinen Skandal mehr. Das war 1970 anders, als in «Wünsch dir was», der Samstagabendshow für die ganze Familie, eine junge Frau barbusig in einer transparenten Bluse bei Dietmar Schönherr auftrat. Heute wird das niemanden mehr schockieren. Und doch ist nicht einfach nichts dabei beim «going braless».
Ein blanker Busen nämlich, der unter dünnem Stoff sichtbar wird, erregt nun einmal Aufsehen, auch heute. Im Winter im dicken Wollpullover mag das anders sein. Aber im Sommer ist alles darauf angelegt, hinzuschauen.
Jane Birkin und ihre Schwestern haben die Aufmerksamkeit noch cool genommen. Vielleicht waren sie halt doch weniger prüde. Ich fürchte, wir Empfindlichen heute wären weniger gelassen, sondern fühlten uns schnell belästigt, wenn einer dann doch schaut, statt die Augen angestrengt aufs Ohrläppchen der Frau zu richten oder an ihr vorbei ins Leere zu starren.
Selbstverständlich sollen Frauen anziehen oder weglassen, was sie wollen, ohne mögliche Reaktionen von Männern vorwegzunehmen und sich anzupassen. Aber Blicke lassen sich nicht erziehen, und die Symbolik des Busens lässt sich nicht neutralisieren. Deshalb nennt man ihn ja sekundäres Geschlechtsmerkmal.
Wer sich zeigt, muss das Begehren der anderen aushalten.
Passend zum Artikel
Birgit Schmid
Birgit Schmid